24 Stunden im Nebelwald von Ecuador – das war während meiner Zeit dort nichts besonderes. Doch im minutengenauen Logbuch wird deutlich, wie unterschiedlich das Leben sein kann. Schon beim daran denken klebt mir das T-Shirt am Körper!
10.30 Uhr: Ich treffe mich mit Wilter am Busterminal im Norden von Quito. Die Sonne brennt und ich bin müde. Die letzte Nacht wurde in einem Salsa-Club durchgetanzt, der Schlaf war kurz.
10.45 Uhr: Der Bus holpert los, raus aus Quito, raus aus dem Moloch. Die Außenbezirke sind die ärmsten Gebiete im ganzen Land. Absolute Armut herrscht hier, die Stadt spuckt die Arbeitslosen und Bettler aus und sie werden vergessen. Unter der brennenden Sonne liegen Menschen schlafend in staubigen Hinterhöfen, viele haben kein Dach über dem Kopf.
12.30 Uhr: Die Landschaft hat sich verändert. Aus dem Staub und Dreck und den kargen Felsen im Norden von Quito ist ein grüner Teppich aus Wald, Wiesen und Sträuchern geworden. Von Kilometer zu Kilometer wird es schwüler. Mein Hemd klebt mir am Rücken, ich halte meinen Kopf aus dem Fenster und muss immer wieder Ästen ausweichen, die gegen den Bus schlagen. In der oberen Busverkleidung hat sich eine große Schraube gelöst, sie rollt in jeder Kurve hin und her. Dsssssschhhid, kling. Dssssssschhhid, klang. Die Fenstergardinen wehen im Wind. Es läuft Salsa-Musik und ein gleichzeitig ein komischer Abenteuerfilm aus England.
13:30 Uhr: Wir erreichen Pacto, ein kleines Örtchen mit 600 Einwohnern am Übergang von der Sierra zur Costa, genannt Selva. Eine halbe Stunde Pause. Mit Wilter besuche ich die Schule unserer Organisation in Pacto. Es ist gerade Unterricht. Wir betreten einen Klassenraum, alle stehen auf. Tuscheln, Kichern. Alle sind so alt wie ich oder älter. Ich werde vorgestellt, mit Applaus begrüßt. Mir ist das unangenehm. Ich stelle mich kurz vor, baue einen Witz ein, alle lachen, Eis gebrochen, schnell wieder raus. Von der Schulleiterin gibt es noch eine Cola, dann müssen wir wieder zurück zum Bus.
14.05 Uhr: Der Bus fährt los, biegt nach 100 Metern rechts auf eine Schotterstraße ab. Wir betreten eine andere Welt. Es wird plötzlich nebelig. Die Luft ist mit Wasser getränkt. Die Bäume werden dichter, höher. Lianen, Moos, Gräser – der Nebelwald. Ein undurchdringbares Dickicht aus feuchter Flora zieht am Busfenster vorbei. Der Bus fährt langsam und muss immer wieder großen Schlaglöchern, Wasserfällen oder Straßenabbrüchen ausweichen. Ich bin mittlerweile komplett nassgeschwitzt.
15.15 Uhr: Der Bus hält. Im Nirgendwo. Vielleicht 30 Häuser. Drumherum Berge aus Urwald, genauer gesagt Nebelwald. Wir steigen aus, mir schlägt feiner Sprühregen ins Gesicht. Dazu ist es unfassbar warm und drückend. Über den gepflasterten Hauptplatz des Dorfes gehen wir Richtung Haus. Links auf dem improvisierten Volleyballplatz spielen die Jugendlichen ein Turnier. Als wir vorbeigehen, sind alle Augen auf uns gerichtet. Schweigend folgen ihre Blicke unseren Schritten.
15.30 Uhr: Das Haus der Familie ist ein bunt zusammengezimmertes zweistöckiges Gebäude. Im Hinterhof hängt die Wäsche, leben die Hühner, gibt es eine Feuerstelle, ist das Klo, die Dusche und die Werkstatt. Irgendwo dazwischen läuft der kleine Fratz von Sohnemann herum, der ein Jahr alt ist aber sich schon erfolgreich im Küken-Fangen versucht. Herzlich werde ich von Wilters Mutter begrüßt. Sofort danach bindet sie sich ihre Schürze um und setzt Wasser auf. Gekocht wird ein Festmahl aus Reis, Yuca, Kochbananen, Erbsen und Huhn. Wir dürfen nicht helfen, sitzen nur auf der kleinen Holzbank und ruhen uns aus. Begeistert gucke ich zu, wie sie sich in dieser Küche zwischen den Feuerstellen hin und her bewegt. Eine halbe Stunde später steht eine Portion Essen vor mir, die normalerweise für zwei reichen würde.
16.10 Uhr: Wir ziehen uns unsere Gummistiefel an und packen die Schubkarre: Dünger, Mais, Futter, Macheten, Säcke, Töpfe und Eimer. Mein Kollege, seine Mutter und ich. 40 Minuten mit der schweren Schubkarre über die Schotterstraße, immer weiter hinein in den Nebelwald. Es nieselt noch immer, man hört Vögel und unidentifizierbares Gebrüll im Wald. Wir wechseln uns mit der Schubkarre ab, bis wir am Eingang des Stückes Land der Familie sind. Jede Familie hat hier so ein Stück Land. Zur Selbstversorgung und damit sie das, was überbleibt, auf dem Markt verkaufen können. Zwischen riesigen Bananenstauden hindurch gehen wir zu einer kleinen Stallung. Schweinegrunzen und Hühnergegacker begrüßen uns, überall liegen Eimer, Säcke oder Essensreste herum.
16.30 Uhr: Mit der Machete bahnen wir uns den Weg zur Kuhweide. Immer höher steigen wir auf, vorbei an Stauden und Pflanzen, die ich bisher nur aus Filmen kenne. Überall wachsen Früchte, die wir zwischendurch abreißen und essen. Meine Kleidung klebt an mir, Fruchtfliegen und Mücken sirren in Schwärmen über unseren Köpfen. Hier unter einem Stacheldraht durch, da über einen morschen Baum geklettert. Irgendwann erreichen wir die kleine Weide, auf der drei Kühe stehen. Das Kalb bekommt einen Maulkorb, damit es nicht die Milch der Mutter trinkt und der Euter morgen voll ist, um ausreichend melken zu können. Ich drehe mich um. Es eröffnet sich ein Blick über ein Tal aus Nebelwald. Nasse Wolken ziehen langsam um die Baumwipfel des Nebelwaldes, die Luft ist erfüllt von Vogelgeschrei. Man hört dicke Tropfen auf Bananenblätter fallen. “Mi pais” sagt Wilter. Hier wurde er geboren, doch seit sieben Jahren lebt er in Quito – wegen der Arbeit und der Tochter, die ja studieren will und eine gute Ausbildung bekommen. Der Mittdreißiger mag Quito nicht, fährt jedes Wochenende hierher. Er zieht seine Mütze ab und beugt sich zu dem Kalb. Das beschnuppert ihn und beginnt dann, seinen kompletten Kopf und sein Haar mit der rauen Zunge abzulecken. “Das macht sie so gerne!”, sagt er und lacht aus vollem Herzen. Ich atme tief ein und aus. Das ist einer dieser Momente, in denen nichts anders sein muss.
17.00 Uhr: Zurück an den Stallungen misten wir den Schweinestall aus, ernten Yuca und Bananen. Außerdem Zuckerrohr, das man direkt essen kann. Man kaut darauf rum und lutscht es aus. Das danach trockene Fruchtfleisch spuckt man wieder aus. Süß und lecker! Ich fange ein Huhn ein, das später geschlachtet werden soll und packe es in einen Sack. Mit dem Huhn in der einen Hand, einer Bananenstaude in der anderen und die Taschen voller Tomaten ziehen wir los. Auf dem Weg heraus aus dem Nebelwald schlagen wir noch Feuerholz und Blätter für die Meerschweinchen, die hier in Ecuador eine Delikatesse sind und auf dem Markt bis zu 20 Dollar pro Stück einbringen. Die Schubkarre wiegt mittlerweile 50 oder 60 Kilo. Wir drei sind – wieder oder noch immer – komplett durchgeschwitzt. Die Dämmerung setzt ein, um uns herum beginnen die Tiere ihr Nachtkonzert. So laut, so unheimlich und auch so schön. “Diferente que en Quito, no?” fragt mich die Mutter. Ja, so unfassbar dieser Unterschied. Mal wieder die Natur zu hören und nichts als die Natur – das ist wie eine Kur von dieser Stadt.
18.30 Uhr: Es ist mittlerweile dunkel und der Regen hat aufgehört. Insekten tanzen um die nackte Glühbirne im Innenhof. Kaum sind wir in die Tür getreten, legt die Mutter ihre Schürze um und beginnt, Essen zu kochen. Mittlerweile sitzen auch die Busfahrer, die von Quito hierher fahren, in dem kleinen Essbereich. Sie übernachten im zweiten Stock und fahren dann morgen früh zurück. Außerdem drei Geschwister von Wilter, der kleine Sohnemann und der Vater von Wilter – wir sind nun zu elft. Die Mutter lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und kocht, wäscht ab, putzt, schnippelt und brät. Nach einer Stunde habe ich wieder einen Berg aus Essen vor mir stehen – und nicht nur ich, sondern auch alle anderen neun Personen. Sie selbst isst dann den Rest, wenn wirklich niemand mehr etwas will.
19.45 Uhr: Ich unterhalte mich mit der Familie. Sie wollen alles wissen, wie das so ist in Deutschland und was mir hier so gefällt und ob ich schon eine “chica” habe und ob ich Reis mag. Sie sind neugierig, lachen viel. Wilter greift sich ab und an ein kleines Huhn, das in der Küche herumläuft und schmust mit ihm. Danach schmust er mit dem Sohnemann seiner Schwester. Wilter ist der liebenswürdigste Mensch, den ich in meinem ganzen Leben je kennengelernt habe. Während mein Blick verträumt über die Gesichter der Familie schweift, bewegt sich etwas im Augenwinkel. Ich sehe, wie sich eine riesige Spinne
blitzschnell von der Decke auf die Küchenzeile zwischen die Kochtöpfe herablässt. Gar nicht drüber nachdenken, sage ich mir. Ich gehe ins Bett und mache absichtlich nicht das Licht in dem Bretterverschlag an, in dem ich schlafe. “Wenn Du es nicht siehst, existiert es nicht” sage ich mir.
05.00 Uhr: Geschrei. Nicht von Menschen, sondern von Tieren. Affen, Vögel, Hähne. Überall um mich herum ist die Nacht erfüllt von lautem Gesang. Ich liege auf dem Rücken im Bett und lausche. An Einschlafen ist nun sowieso nicht mehr zu denken. Geschrei im Nebelwald.
08.00 Uhr: Ich warte. Warten ist ein großer Bestandteil meiner Zeit in Ecuador. Da ich meistens mit Einheimischen unterwegs bin, bin ich glücklicherweise gezwungen, mich nach ihnen zu richten. Ich stehe dann manchmal etwas verloren in der Gegend rum, wenn alle beschäftigt sind und ich nicht so richtig weiß, was zu tun ist. Gleichzeitig beobachte ich dann gerne und sauge alles in mich auf.
08.30 Uhr: Ich traue meinen Augen nicht. Ich habe zwar gesehen, dass die Mutter schon wieder seit einer Stunde in der Küche schuftet, dass sie aber SO ETWAS zubereitet, habe ich nicht gedacht: Sie hat sozusagen alles verarbeitet, was wir gestern geerntet haben. Reis, Yuca, Ei, Huhn, Bananen. Ein Berg aus Essen steht vor mir und das am frühen Morgen. Wilter sieht meinen verwirrten Blick. “Hier in der Selva essen wir drei Mal am Tag so eine Mahlzeit” erklärt er mir. Die Arbeit auf dem Feld sei so hart, dass man es sonst nicht schaffen könne. Okay, dann mal los, sage ich mir und verputze den Teller. Ich könnte
danach direkt wieder ins Bett.
09.00 Uhr: Die Camioneta kommt vorbei, der Pickup eines Freundes. Eilig packen wir die frisch gedruckten Schulbücher aus dem Hauptbüro in Quito in Kartons und beschriften sie. Aufgeladen, draufgesetzt und los. Ich lehne mich gegen einen schwarzen Plastiksack. “Das würde ich nicht tun” lacht mich Wilter an. “Das ist Schweinefleisch.” Ich rücke ein bisschen von dem Sack weg und sehe wie Blut aus dem Sack über die Ladefläche rinnt, als die Camioneta bremst. Holpernd und polternd rast der Wagen durch dicht bewachsene Waldwege, wir halten uns an den Eisenstangen fest. Wir überqueren Flüsse und Steilhänge, es nieselt und vor Nebel kann man kaum weiter sehen als 100 Meter. Zu guter letzt über eine wackelige Holzhängebrücke, die dicht über dem reißenden braunen Flusswasser schwebt.
09.30 Uhr: Das Dorf, in dem unsere Schule steht, ist kaum grösser als Sanguangal. Einige SchülerInnen sind schon da, sie tragen die weißen T-Shirts, die wir in Quito anfertigen. Ein großer Platz, 2 Bambushütten, zwei Gebäude aus Beton. Nach einer kleinen Ansprache auf dem Platz, bei der auch ich wieder vorgestellt werde (Hallo, Applaus, Tuschel Tuschel), gehen alle in ihre Klassen. Auf abgenutzten kleinen Holzbänken, die für Kinder gemacht sind, sitzen die jungen Erwachsenen. Oft finden zwei Kurse gleichzeitig in einem Raum statt. Trotzdem ist es schön, zu sehen, wie unsere Arbeit in Quito hier ankommt. Einer unserer Leitsätze lautet: Wir arbeiten dort, wo die Straße aufhört. Und das stimmt. Diese jungen Erwachsenen arbeiten seit Kindesbeinen auf dem Feld, schuften im Dorf und gingen nie zur Schule. Nun können sie am Wochenende das nachholen, was man zumindest eine Grundbildung und einen Abschluss nennen kann. Das erste Mal spüre ich, dass es doch irgendwie einen Nutzen hat, was wir im Büro in der Hauptstadt machen.
12.00 Uhr: Von weitem hört man Hupen und sieht eine Staubwolke am Horizont. Der Bus nach Quito kommt. Ich steige in den Bus, blicke auf die Schule und das Dorf und winke Wilter zu. In Gedanken verabrede ich schon ein weiteres Treffen mit ihm. Auf ein Wiedersehen!
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