Meinen Bericht über die Besteigung des zweithöchsten Berges in Ecuador, dem Cotopaxi, kann ich nicht am Abend zuvor oder am Einstieg in den Gletscher beginnen. Meine Passion für diesen Vulkan begann mit dem ersten Bild, das ich in meinem Reiseführer sah – noch lange bevor ich die Reise nach Ecuador angetreten hatte. Ich blätterte durch die Seiten und blickte plötzlich auf einen perfekten, schneeüberzogenen Vulkankegel. Eine Dreier-Seilschaft geht am Rand einer Schneewechte entlang. Etwa zwei Meter daneben öffnet sich der riesige schwarze Schlund des Vulkans, der einen Durchmesser von fast einem Kilometer hat. Im Hintergrund ein Wolkenmeer. Einzelne 5000er ragen ihre Spitze durch die flauschige Watte empor, hinter ihnen bricht die Sonne durch den Horizont und lässt die Berge lange Schatten schlagen. „Volcán Cotopaxi, 5897m“ stand in nüchtern deskriptiver Form unter dem Bild. Ungläubig sagte ich damals zu meinem Vater, der neben mir saß „Das wär ja was!“ und lachte.
Als ich dann einige Monate später meine Zeit in Ecuador begann, rückte das Bild aus dem Reiseführer plötzlich in greifbare Nähe. Jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit thronte der Vulkan gut sichtbar über der Stadt. Der perfekte Vulkankegel und wohl auch deswegen ein beliebter Anziehungspunkt für Bergsteiger und Touristen. Für mich war selbst der schneebedeckte Gipfel Neuland. Zwar hatte ich schon einige Berge bestiegen und sogar ein paar Felswände erklettert, jedoch waren mir Eis, Schnee und Gletscher maximal in Harzer Verhältnissen vertraut – nicht aber auf fast 6000m. Wie ich jedoch bald erfuhr, sei der Cotopaxi technisch kein besonders anspruchsvoller Berg. Man müsse es nur wollen, wurde mir immer wieder gesagt. Und ja, ich wollte es. Ich begann schnell den Andinismus für mich zu entdecken und steigerte fast wöchentlich mein Level. Da Quito bereits auf 3000m Höhe liegt, war schnell der erste 5000er erklommen – teilweise in waghalsigen Nacht- und Nebelaktionen, die im Nachhinein viel gefährlicher waren als die Besteigung des Cotopaxi. Und dennoch war dieser Berg über Monate mein Traumziel, bis es am ersten freien Tag nach meinem Praktikum endlich losgehen konnte.
Vulkan Cotopaxi: Mit Steigeisen durch Quito
Mit meiner Seilpartnerin Cora, die ich über Couchsurfing kennengelernt habe, verlasse ich den kleinen Laden im Stadtzentrum von Quito. 13 Uhr mittags, die Sonne kracht vom Firmament. An unseren Rucksäcken: Eisäxte, Steigeisen, Thermohosen, Helme, Karabiner und mehrere Paar Handschuhe. So durch die geschäftige Metropole zu laufen ist schon ein erstes Erlebnis für sich.
Am nächsten Morgen brechen wir von Quito auf, um uns mit unserem Guide zu treffen, der in der Nähe des Cotopaxi-Nationalparks auf uns wartet. „Lobo“, Wolf, sollen wir ihn nennen. Ahja. Mit knallenger Leggins und darunter Waden dick wie Baumstämme steht er lässig an den Jeep gelehnt. Armeetatoos an den Unterarmen und unter der Fliegerbrille versteckt ein Blick, der wirklich dem eines Wolfes ähnelt. „Vamos chicos!“ – also los zur Schutzhütte. Auf der Fahrt erzählt uns Lobo, dass er gerade vom Gipfel komme; wir seien seine dritte Tour in drei Tagen. Binnen von Sekunden fühle ich mich schlecht. Seit Wochen denke ich ständig an diesen Tag und Lobo vertritt sich dort oben vier Mal wöchentlich die Beine. Toll! Am Fuß des Berges parken wir den Jeep und schleppen unsere riesigen Rucksäcke eine Stunde über Lavasand zur Schutzhütte, von der aus wir später aufbrechen werden. Einen Schritt vor, zwei zurück. Ein Vorgeschmack auf das, was kommt? Schon jetzt wirkt jeder Atemzug wie der verzweifelte Versuch, in einem Vakuum Luft zu bekommen.
Am Nachmittag ruhen wir uns aus und trinken literweise Tee, um den Kopfschmerzen vorzubeugen. Während Lobo wie ein Meisterkoch in der Küche herumwerkelt, checken Cora und ich unsere Ausrüstung. Vom Nachbartisch schnappe ich Wortfetzen und Instruktionen der anderen Guides an ihre Kunden auf. Es geht um Gletscherspalten, Notfallsituationen und den Ablaufplan der Besteigung. Etwa 60 Personen sind auf der Hütte, die Luft ist muffig und stickig. Die ecuadorianischen Guides haben es sich in einer Ecke gemütlich gemacht. Gerade wird der „Taxista del amor“ begrüßt, ein älterer, gutaussehender Guide, der seinem Namen treu bleibt und sich später noch an Cora heranmachen wird. Draußen schneit es ununterbrochen und Lobo erklärt uns, dass wir nicht losgehen können, wenn der Schnee noch länger anhält. Gegen 7 Uhr abends legen wir uns schlafen. Ich hülle mich in meinen Schlafsack ein, Oropax schließen meine Ohren und lassen mich nur mein eigenes Blut hören. Ich lausche meinem Atem, der schwerfällig versucht, Sauerstoff in meine Lungen zu pressen. Der Schlafsack ist eng. Irgendwie zu eng. Das Pochen in meinen Ohren wird lauter. Ich atme schneller. Panik steigt in mir auf. Mit zittrigen Händen öffne ich den Reisverschluss. Hilft nichts. Um mich herum alles pechschwarz, hektisch versuche ich Luft zu bekommen. Ich höre nur Atem und Blutrauschen. Dann rückt alles in weite Ferne und ich verliere das Bewusstsein. Ein paar Sekunden war ich wohl weg, Cora stupst mich an und fragt mich, ob alles in Ordnung ist. „Alles gut“ erwidere ich und muss irgendwie fast Grinsen über diese erste Extremerfahrung.
Punkt 23 Uhr setzt sich der Schweizer im Nachbarbett mit einem lauten Rülpser auf. In Fleecehose, Unterhemd und dicken Bergstiefeln watschel ich zur Hüttentür, in der Hoffnung auf gute Bedingungen. Über mir erstreckt sich ein Sternenhimmel aus dem Bilderbuch. Schnell gehe ich zurück und wecke Cora. Auch sie hat nicht geschlafen, eher vor sich hin gedöst. Nun wird es wieder nervös im Bettenlager. Stirnlampen huschen durch die Dunkelheit, man hört Karabiner klimpern und Eisäxte klingen. Die Morgentoilette wird an einem Stein erledigt, da es keine Toiletten gibt. So sitzen um Mitternacht dutzende Stirnlampen rund um die Hütte herum in der Dunkelheit, einige nur kurz verharrend, andere minutenlang bewegungslos.
Vulkan Cotopaxi: Axt, Schritt, Schritt.
„Vamos chicos, vamos a la playa!“, so Lobo, während er sich seinen Rucksack aufschnallt und den ersten Fuß in den Schnee setzt. Punkt Mitternacht verlassen wir das Refugio und gehen los. Zwei Meter, dann geht gar nichts mehr. Ein Andinismus-Club mit 27 Mitgliedern ist direkt vor uns gestartet und wir stehen erstmal im Stau. Lobo wird nervös. Nach und nach überholt er kleinere Gruppen und legt dabei ein ordentliches Tempo vor. Immer wieder blicke ich schräg nach hinten, wo sich das gelbe Lichtermeer Quitos mit der pechschwarzen Nacht trifft, die von tausenden Sternen durchzogen ist. Nach etwa einer Stunde machen wir Halt, um unsere Steigeisen anzulegen und uns als Seilschaft zu verbinden. „Jetzt wird es SEHR STEIL“, sagt Lobo. Und wenn Lobo das schon sagt… Aber Cora und mir geht es gut, wir spüren noch keinen Kopfschmerz und sind fit. Die folgenden zwei Stunden befinden wir uns in einem Gletscheranstieg mit etwa 35 Grad Steigung. In langen Zickzack-Linien Schritt für Schritt voran. Links die Eisaxt, rechts den Teleskopstab. Cora ist in der Mitte angeseilt, ich gehe hinten. Stunde um Stunde sehe ich nur ihre Unterschenkel und die Rückseite der klobigen Expeditionsschuhe im Schein meiner Stirnlampe. Im diffusen Bereich außerhalb des Lichtkegels lassen sich gewaltige Gletscherspalten und hunderte Meter tiefe Abgründe erahnen. Die Steigeisen klammern sich in den gefrorenen Schnee. Axt, Schritt, Schritt. Axt, Schritt, Schritt.
Nach zwei Stunden im Gletscher machen wir eine kurze Pause. „Como estan, chicos?“ fragt Lobo. Immer noch ganz gut geht es uns, nur ein leichter Druck im Kopf breitet sich aus. Wir hoffen, dass es noch so lange wie möglich nur dabei bleibt. „Jetzt wird es SEHR ANSTRENGEND“, sagt Lobo dieses Mal. Okay. Und wenn Lobo das schon sagt… Und es wird nicht nur anstrengend, es wird der Wahnsinn. Es ist mittlerweile halb 4, die Temperatur ist eisig, der Wind peitscht uns Schnee ins Gesicht und Lobo zieht das Tempo an. Immer wieder müssen wir ihn zügeln langsamer zu gehen. Als wir kurz anhalten, versuche ich vergeblich, einen Müsliriegel zu essen. Die Kälte ist in beide Paar Handschuhe eingedrungen, sodass ich meine Finger kaum noch koordinieren kann. Schon nach ein paar Sekunden Pause beginnt mein Körper unkontrolliert zu zittern. Wir gehen weiter, müssen ständig Gruppen überholen oder überholen lassen. Ich finde nur schwer meinen Rhythmus. Noch dazu merke ich, wie meine Kopfschmerzen schlimmer werden. Axt, Schritt, Schritt. Einatmen, Ausatmen. Axt, Schritt, Schritt, Einatmen, Ausatmen. Wie gelähmt bewegen wir uns vorwärts, die Steigung beträgt etwa 40 Grad. Rechts neben mir tut sich im Schein der Stirnlampe der Abgrund auf, der einfach nur die Bergflanke selbst ist.
Kurz vor 5 machen wir noch einmal eine Pause. Ich wusste schon, was kommt. „Jetzt wird es nochmal SEHR STEIL und SEHR ANSTRENGEND“ sagt Lobo. „Chuta Madre“ sage ich (es gibt dafür situationsabhängig viele Übersetzungen, in diesem Fall heißt es „So eine Scheiße“). Auch Cora hat Kopfschmerzen, ihr scheint es jedoch besser zu gehen als mir. Wir steigen in „die Rampe“ ein, die Lobo mit 20 Minuten anpreist. Aus 20 Minuten werden 40 der Qual. Mein Kopf explodiert und mein Herz pocht so schnell, dass ich befürchte meine Halsschlagader könnte platzen. Mein Unterleib fühlt sich an, als würden sich gerade alle Eingeweide auf einmal durch meinen Darm schieben wollen. Ich keuche vor mich hin, muss nach allen 5 Schritten für ein paar Sekunden anhalten. 45 Grad Steigung. Langsam wird es hell. Lobo will 5.30 Uhr am Gipfel sein, um den Sonnenaufgang nicht zu verpassen und vor Hitze und Lawinengefahr wieder unten zu sein. Mittlerweile geht mir der Sonnenaufgang sowas von am Arsch vorbei. Und sowieso dieser ganze Berg. Wozu mache ich den ganzen Affenzirkus? Warum liege ich nicht am Strand und lasse mir Cocktails servieren? Warum bezahl ich auch noch Geld dafür, mich hier zu quälen? Und warum müssen Berge immer so steil sein? Während dieser Gedanken habe ich wieder 20 Meter geschafft. „5 minutos mas a cumbre“, verkündet Lobo. Auch wenn ich weiß, dass aus den 5 Minuten 10 Minuten werden, es gibt Kraft. Die letzten Meter. Die Steigung verringert sich. Ich sehe Köpfe. Dann Oberkörper. Sie haben keinen Rucksack auf. Das muss der Gipfel sein. Die Schritte werden leichter. Und plötzlich stehen wir da. Auf einem Plateau aus Schnee. Rechts neben mir der Vulkankrater mit fast einem Kilometer Durchmesser. Um uns herum ein Wolkenmeer, über dem gerade die Sonne aufgeht. Mich durchströmt unfassbares Glück. Grün und bleich im Gesicht blicke ich auf das Bild im Reiseführer – und dieses Mal bin ich Teil davon, das hier ist kein Bild, das ist Realität. Und anstatt es auch nüchtern deskriptiv „Volcán Cotopaxi, 5897m“ zu nennen, heißt meines „Das Glück dieser Erde“.