Manchmal denke ich, ich wäre mit meinen Gedanken alleine. Ich behalte sie für mich, schlucke sie runter, schreibe sie auf, lösche sie wieder, erzähle sie erst nach zwei Flaschen Wein, sodass ich sie am nächsten Tag selbst vergessen habe. Mit ihnen verschwindet das Gefühl, dass da etwas im Inneren ist, das raus möchte. Ein latentes Gefühl, fast ein alles bestimmender Drang, den ich unterdrücke und absichtlich vergesse. Und dann, in einem Moment der Zweisamkeit oder Ruhe mit Freunden, wenn das Herz freien Lauf hat und die Gefühle nur so sprudeln, dann blicke ich plötzlich in nickende Gesichter, in Verständnis und in Zustimmung. Ich blicke in das Gefühl, dass jemand formuliert, was viele nur kurz zu denken vermögen, um es dann beiseite zu schieben und im Alltag untergehen zu lassen.
Wenn ich davon erzähle, dass ich wie taub in der Bibliothek sitze, den Blick immer wieder über den Bildschirmrand schweifend. Hinaus in die untergehende Sonne, die Blätter im Wind, die frostigen Äste und auf das Laub auf dem Boden. In Wolkenexplosionen, tanzende Kristalle beim ersten Schnee und die Wucht des Wassers im Fluss. Wenn der Blick aus der S-Bahn nur dem vorbeiziehenden Wald gilt, den Erhebungen und Hügeln, den Wiesen und Feldern und Flüssen und Seen. Wenn sich das Büro, der PC, der Schreibtisch, der Hörsaal, der Seminarraum oder die U-Bahn anfühlen wie ein goldener Käfig. Und wenn mich kalter Stein und Beton, Glas und Metall von der gleichzeitigen Weichheit und Härte der Natur trennen; von der Welt da draußen.
Dann will ich meine Hände eingraben in die Erde, die kalte Luft spüren im Gesicht und das Gras von ganz nah betrachten. Wasser, das mich umgibt und Schnee, der meine Hände taub werden lässt. Tränen des Glücks und Lachen vor Verzweiflung. Geräusche des Nichts und die Lärm der Wildnis. Ich will verdammt nochmal eintauchen in den Himmel, der Rot, Geld, Blau, Lila und Orange zugleich zeigt. Die Erde anfassen, auf der ich laufe und die Luft sehen, die ich atme.
Geht es bei diesen Wünschen und Träumen nicht auch darum, den Moment zu spüren? Sich nicht leiten lassen von Rationalität, Gewohnheiten oder Bedenken. Sondern das Jetzt zu greifen, festzuhalten und solange nicht loszulassen, bis es einem überdrüssig wird. Den Tag, die Woche oder den Monat so auszukosten, dass auch der Tod das Erlebnis nicht schmälern könnte. Damit geht es auch darum, sich und seinen Körper zu spüren. Den Schmerz beim Erklimmen eines Gipfels, die Angst vor dem Sturz, das Adrenalin der Geschwindigkeit oder das Brennen der Waden – alles Versuche, sich an das Leben zu erinnern und sich selbst spürbar zu machen. Wir sehnen uns nach der direkten, schonungslosen und dadurch so wunderbaren Wildheit der Natur, weil es das ist, was wir im Alltag nicht finden. Wann haben wir das letzte Mal laut gegen den Wind geschrien? Das letzte Mal in einem Eisbach gebadet? Oder wann waren unsere Fingernägel schwarz vor Dreck? Sich an die äußerste Kante eines Hochhauses zu stellen ist nicht Leichtsinn oder Selbstmord. Es ist der Wunsch, sich mit dem ultimativen, endlichen Jetzt zu konfrontieren und dadurch einen Moment der absoluten Lebensbewusstheit zu schaffen. Lebensbejahung nimmt auch deswegen diese extremen Züge an, weil der Alltag eben nicht das körperliches Bewusstsein oder die emotionalen Abenteuer bereitstellt.
Die Sehnsucht nach der Welt da draußen, es ist die Sehnsucht nach uns selbst und dem Spüren von Emotionen, die so stark sind, dass sie uns umhauen. Können wir sie freilassen? Oder ist es auch Teil des Lebens, sie zu unterdrücken? Ich will umgehauen werden. Ich will meine Sachen packen und alles hinter mir lassen, das schwer auf den Schultern lastet. Ich will gegen den Wind schreien und Wasser im Gesicht. Ich will in die Welt da draußen.
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