Fortschrittlich…Manchmal ruft die Welt, die Natur und die Stadt erschlägt dich. Warum dem Stadtkind auch mal die Decke auf den Kopf fallen kann und es sich nach Freiheit sehnt.

Fortschrittlich: Weichgespülte, moderne Welt

Ratlos stehe ich vorm Käseregal im Lebensmittelgeschäft meines Vertrauens und betrachte die Packung Emmentaler in meinen Händen. „Jetzt noch leichter zu öffnen.“ Der Komparativ suggeriert eine Verbesserung, ergo ein damit verbundenes Problem. Die Trennung des ungeduldigen, mangelernährten Mitteleuropäers von seiner lebenswichtigen Fettzufuhr durch den fest verschweißten Zipfel einer simplen Plastikverpackung. Ein bisschen Fingerfertigkeit im Alltag ist sicherlich auch nicht zumutbar zwischen globaler Mobilität, Supercomputern und vollautomatischen Küchenmaschinen. Was würden wir nur machen ohne all die Konzerne und Verbraucherzentralen, die sich um unser Wohl sorgen? Die diese kleinen kratzenden Knitterstellen unseres Alltags beseitigen, uns umwickeln und umwindeln, damit wir nicht zerbrechen in unserer heilen Glitzerwelt? Nicht mehr überlebensfähig am Ende der Stadt.

Fortschrittlich: Ökologisch wertvoll

Ich bewege mich im morgendlichen Schleichtempo zur Kasse und lege meine Fairtrade-Bananen, die Bio-Nussmischung und den Soja-Drink auf das Kassenband. Langsam fahren meine ökologischen Grundnahrungsmittel an mir vorbei. Ich folge ihnen. Möglichst viel Öko, möglichst viel Grün. Sehnsüchtig betrachte ich den Fotoaufdruck auf dem Abfallcontainer vor dem Supermarkt-Fenster. Grüne Buchenblätter im Sonnenlicht. Mein Bauch zieht sich zusammen. Ich will raus. Raus, raus, raus. In die Berge, ans Meer, in einer einsamen Hütte der Stille zuhören und in die Ferne schauen. Frische Luft, Arbeit mit den Händen. Ich will Feuer machen und mein Wasser selbst abkochen. Ich will laufen, mich bewegen, will nass werden im Regen und schwitzen in der Sonne. Will abends mit Muskelkater müde ins Bett fallen und morgens ein Stück Käse mit hartem Brot essen. Ich will mehr als diese weichgespülte Welt. Ich will mich wieder spüren und das Leben herunter brechen auf das Wesentliche. Stattdessen häufe ich grüne Dinge in meinem Leben an, versuche Natur in mein Leben zu holen anstatt in ihr zu sein. Ich bin Bio, Container-Kind und Sharing-Community. Und ich bin es gern. Wir sind zu dämlich, selbst eine Lösung zu finden, wenn es mal nicht weiter geht. Wir kaufen alles, anstatt zu basteln und zu bauen, wir lassen streichen, kochen, bringen, reparieren schon längst selbst nicht mehr. „Wenn die Hände nichts mehr zu tun haben, dann steht das Denken still.“ Über die Hose quellende Speckröllchen an jeder Ampel, Maltherapie und Problembewältigung. Resultate des labilen Seelengerüsts unserer problembehafteten Nachwuchsgeneration. Wir schwimmen im Überfluss und verhungern am Leben. Ich will das nicht. Ich will selber machen und selber sein. Ich habe keinen Bock auf die modernen Errungenschaften der Leichtigkeit.

Fortschrittlich: Rund und instabil

Ich steige in den Bus und schaue aus dem Fenster während die Finger meines Nebenmanns auf seinem Smartphone herum eiern. Die gleichen Finger, die am Frühstückstisch vermutlich Ewigkeiten ziellos an der Käseverpackung popelten. Draußen ziehen geometrische Agrikulturen vorbei. Ach wie langweilig, du schön sortierte Welt. Kann man sich eigentlich noch echt fühlen, wenn keine echten Herausforderngen mehr warten? Kann man eigentlich noch aus Fehlern lernen, wenn die Technik uns vor diesen bewahrt? Ein rundes Leben steht nicht stabil. Ich denke an geschwollene Füße in Peru und schmerzende Waden in den Alpen, an zitter-kalte Nächte in Alaska und schweißtreibende Touren durch den bolivianischen Regenwald. Die Welt prüft dich, die Welt prägt dich. Die Natur zeigt wer du bist und was du sein kannst, wenn du willst. Wo haben wir hier schon eine Wahl in der Stadt? Wir schmücken uns mit Individualität und versuchen auszudrücken, für was wir stehen. Krampfhafte Inszenierung, weil wir sonst keine Möglichkeiten haben, wir zu sein. Verrückt. Draußen, in der Welt da draußen, mit deinem Zelt und deinem Rucksack, mit deinem Willen durchzuhalten und deiner Art mit den Dingen umzugehen, ist es ganz einfach, du selbst zu sein. Dort zählt, was wichtig ist. Wir langweilen uns in unserer weichgespülten Welt und verlieren uns. Mit jedem neuen Gerät, das unsere Hände zum Stillstand verleitet.

Fortschrittlich: Analoges Glück

Am Nürnberger Hauptbahnhof zücke ich meine Straßenkarte und navigiere mich glücklich durch die alten, gepflasterten Straßen der Stadt. Der Wind zerrt an dem widerspenstigen Stückchen Papier in meinen Händen und ich erfreue mich am haptischen Hochgefühl. Rückständig. Eigenständig. Ein bisschen Unabhängigkeit, ein bisschen Rebellion. Und irgendwann wieder raus und Leben tanken. Bis die Welt nicht mehr auf Pause steht.

 

Erich Kästner – Die Entwicklung der Menschheit

Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,
Behaart und mit böser Visage.
Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt
Und die Welt asphaltiert und aufgestockt,
Bis zur dreißigsten Etage.

Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,
In zentralgeheizten Räumen.
Da sitzen sie nun am Telefon,
Und es herrscht noch genau derselbe Ton
Wie seinerzeit auf den Bäumen.

Sie hören weit. Sie sehen fern.
Sie sind mit dem Weltall in Fühlung.
Sie putzen die Zähne. Sie atmen modern.
Die Erde ist ein gebildeter Stern
Mit sehr viel Wasserspülung.

Sie schießen die Briefschaften durch ein Rohr.
Sie jagen und züchten Mikroben.
Sie versehn die Natur mit allem Komfort.
Sie fliegen steil in den Himmel empor
Und bleiben zwei Wochen oben.

Was ihre Verdauung übriglässt,
Das verarbeiten sie zu Watte.
Sie spalten Atome. Sie heilen Inzest.
Und sie stellen durch Stiluntersuchungen fest,
Dass Cäsar Plattfüße hatte.

So haben sie mit dem Kopf und dem Mund
Den Fortschritt der Menschheit geschaffen.
Doch davon mal abgesehen und
Bei Lichte betrachtet sind sie im Grund
Noch immer die alten Affen.