Der Rückblick in unser Jahr im hohen Norden geht weiter: Vor fast drei Monaten schlugen wir im Jahr 2014 unser Lager in Rovaniemi, der Hauptstadt Finnisch-Lapplands auf. Wir bauten uns etwas auf, wo nichts vorher war und begannen Land und Leute zu beobachten. Wir zogen aus in die Natur, um dort zu arbeiten und beobachteten, wie der Herbst Lappland langsam in sein buntes Kleid hüllte. Eine kleine Rückschau zu fast allem und viele fotografische Fenster in die Parallelwelt gibt es heute hier.
Im Ausland versucht der gemeine Mensch ja krampfhaft und im Allgemeinen, alles ganz fabelhaft, außergewöhnlich und abenteuerlich zu finden. Ich fand Rovaniemi, mein neues Domizil für die kommenden 14 Monate, einfach nur hässlich! Ein altes Leihfahrrad in Kindergröße schepperte mich auf seinem platten Hinterreifen durch die Stadt und ich versuchte wenigstens ansatzweise das berauschende Glücksgefühl des Exotischen zu verspüren. „Flap, flap“, sagte der platte Hinterreifen und klatschte Beifall für Santa’s Bar, Santa’s Pub, Santa’s Style und Santa’s Shop. Der Polarkreis in Rovaniemi war umsäumt von kitschig-bunten Weihnachtshäuschen des Santa Claus-Village und relativierte die Erwartung einsamster Wildnis und Zivilisationsferne. Quadratische, graue Wohntürme zierten Innenstadt und Randbezirke und unterstrichen das rationale Wesen Lapplands. Musste halt durchhalten im Winter und warm halten, musste halt die Menschen versorgen in einem Meer aus hölzernem Grün. Versorgung stand auch bei mir an erster Stelle und ich zog mit meinem Schepperrad von einer Flohmarkthalle in die nächste, stöberte im finnischen Ebay und füllte mein kleines Heim mit wenigen Pfennigartikeln, die man zum Leben halt so brauchte. Ich lernte „Dreigangschaltung“, „Bremse“ und „funktionierend“ auf Finnisch und erspähte mein Traumfahrrad auf der Bildfläche. „Dreigangschaltung“, „Bremse“, „funktionierend“ – alles da! „On vielä vapaa.“ Es war noch frei. Ich tauschte den lahmen Esel gegen einen billigen Traum in Pink und radelte fortan recht leichtfüßig durch die graue Vorstadt dahin. Futter gab es bezahlbar im Lidl und wer die Lebensmittelauswahl der Superlative bevorzugte, beehrte den Konsumtempel Prisma mit seinem Besuch, dessen Logo eines überdimensionalen bunten Dreiecks die Besucher scharenweise in seine Hallen lockte. Von Sport- und Outdoor-Ausrüstung über Angel- und Jagdbedarf, Utensilien für die private Selbstverteidigung (Pistolen & Messer), Kleidung und Mobiliar bis hin zu Spielwaren und Bastelbedarf häufte sich hier alles unter dem gigantischen, bunten Spitzdach. Hier blieb ich oft hängen auf meinem 4 km langen Heimweg, studierte finnische Futterbräuche und verbrachte die eine oder andere Stunde auf der Suche nach Salmiakki-Schokolade, Polarbread oder Lebensmitteln, die ich auf Finnisch einfach nicht fand. Im Supermarkt konglomerierten die Finnen in ungewöhnlicher Zahl und verschwanden wieder draußen im herbstlichen Dunst vereinzelt ins Hinterland.
Tatsächlich hatte ich festgestellt, dass sich die geringe Bevölkerungsdichte Finnisch-Lapplands nicht nur in leeren Fußgängerzonen äußerte, sondern auch um Umgang miteinander. Einerseits versuchte man sich größtmöglich aus dem Weg zu gehen, was in Anbetracht der Landfläche kein Problem darstellte; andererseits befand man sich in einer der familiärsten Gemeinschaften überhaupt. Alles, was auch nur irgendwie auf elektronischem Wege geregelt werden konnte, ersetzte großzügig jede Form des zwischenmenschlichen Kontakts und ermöglichte dem scheuen Finnen ein Leben in abgeschiedener Freiheit. Den Arzttermin buchte man über das Internet und konnte sich aus den Lichtbildern des freundlich lächelnden Gesundheitspersonals den oder die optisch Überzeugendste/n aussuchen. Die reale Gestalt trug dann meist „leger“ und geisterte als Stationsarzt im Hawaihemd durch die Flure oder in Schlappen und Metal-Shirt durch das Büro. Überhaupt war die Arbeitsatmosphäre recht gesellig: Zwei gesetzlich vorgeschriebene Kaffeepausen und eine langgezogene Mittagspause zerlegten den produktiven Tag in bekömmliche kleine Häppchen. Pünktlich um 11 Uhr fingen die Türen der Kollegen geräuschvoll zu klappen an und appellierten an das Herdentier im Menschen, sich ebenfalls zur Futterstelle zu begeben. Dann fand sich das arbeitende Volk je nach Wetterlage pünktlich auf der Gartenterrasse oder in der Cafeteria ein, um ein recht zeitiges, aber wohlverdientes Mittagsmahl einzunehmen und sich im Sommer anschließend mit einem Sprung in den Kemijoki den Schweiß aus den Haaren zu spülen. Überhaupt gab es da keine falschen Hemmungen, wenn man mal mit den Kollegen zusammen nackig in die Sauna ging oder sich gemeinsam zur Fettverbrennung traf. Bei uns stand jeden Mittwoch pünktlich um 15 Uhr das Gymnastik-Happening (finn.: jumppa) auf dem Programm, zu dem sich alle Interessierten in der Cafeteria einfinden durften. Dort aalten wir uns zu siebt auf unseren Gymnastikmatten und verrenkten sämtliche Körperteile mehr oder weniger elegant in die angegebene Richtung: ylös, alas, kiinni, pysy, yksi, kaksi, kolme, neljä, viisi, kuusi, seitsemän, kahdeskan, yhdeksän, kymmenen (hoch, runter, schließen, halten, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10). Mitä on englanniksi (Was ist das auf Englisch)? Peeing dog!
Auf Beutezug in Lappland
Nun war ich ja aber nicht nur für meine Sozialstudien nach Lappland gekommen, sondern für den Beginn meiner mehrjährigen Doktorarbeit. Es war inzwischen Ende September geworden und tagsüber erreichten die Temperaturen nur wenige Grad über Null. Ein dick angezogener Ball rollte nun morgens mit Watte in den Ohren ins Büro, vorbei an roten Sonnenaufgängen und goldenen Birken, die ihre silbrigen Äste am Mittag in den strahlend blauen Himmel schmissen. Ich wurde etwas unruhig, denn meine Holzproben wollten noch vor dem Wintereinbruch ins Trockene geholt werden. So saß ich also an einem herbstlichen Montag auf meinem roten Reiserucksack und betrachtete die Lebensmitteltüte zu meinen Füßen. Es würde nach Norden gehen, wo ich etwa 500 Kiefern ans Leder wollte. Ein Auto mit zwei Kollegen fuhr vor und ich begann mein Feldtagebuch zu schreiben:
Als wir in Rovaniemi losschipperten begannen winzige kleine Schneeflöckchen leise vom Himmel zu trudeln. Mir schwante Übles als ich in der einsamsten Einsamkeit meine Gästehütte in Kolari für die Nacht bezog und die weißen Biester betrachtete, die sich unbeirrt zu einer geschlossenen Schneedecke zusammen rotteten…Am Morgen spähte ich durch die Gardine nach draußen ins Freie, in eine nasse, weiße Welt aus Nichts. Wintereinbruch in Lappland, nichts ungewöhnliches für diese Zeit und so warf ich mich in meine schon sortierte Rüstung und erreichte damit sicherlich ein Kampfgewicht von fünf Kilogramm mehr: Unterwäsche, Unterhemd, Thermo-Pulli, Wollpullover, Primaloft-Jacke, Regenjacke, Strumpfhose, Fjällräven-Hose, Regenhose, ein paar Baumwollsocken, ein paar Wollsocken, Buff-Tuch, Mütze, Schuhen und Handschuhe. Diese Klamotten sollte ich in Anbetracht des großen Wärmeerfolgs bis zum Ende der Woche nicht mehr ausziehen. Während die Kälte draußen trotzdem heimlich in unsere Glieder kroch, beprobten wir Kiefern im Akkord. Zahlen, Zahlen, Zahlen, die auf Finnisch ihr Echo im Wald verbreiteten und die ich Stunde um Stunde und Tag um Tag mit tauben Fingern in den winzigen Feldcomputer eintippte. Akkus, Batterien und Worte erstarben mit jeder Minute mehr in der eisigen feuchten Kälte und mit Ausnahme der einstündigen Mittagspause, in der wir das Equipment wieder auf Vordermann brachten und Batterien luden, verbrachten wir täglich bis zu neun Stunden draußen. Am Abend verbreitete nasse Kleidung ihren Muffgeruch im Trockenschrank während wir Proben trockneten, Backups erstellten und im Kamin gegrillte Würstchen zu Erbsensuppe verspeisten. Draußen fiel der Schnee in leisen Flöckchen vorm Fenster und vermittelte den trügerischen Frieden eines romantischen Winterurlaubs. Wir hielten durch und sammelten unsere kleinen zerbrechlichen Bohrkerne Tag um Tag bei jedem Wetter. Am Freitag floss die Sonne zum Abschied in klirrender Kälte über die Fjellkuppen, tauchte krüpplige Kiefern und eine Gruppe weißer Rentiere in glitzernden Schnee, als wollte sie Lappland noch einmal in aller Schönheit auf die Linse brennen.
Und so hockte ich später im vollbeladenen Auto zwischen Rucksäcken eingekeilt auf der Rückbank, eine in meinen Wanderschuh gesteckte geöffnete Packung Joghurt zu meinen Füßen und den Laptop auf dem Schoß und schrieb in mein Feldbuch, während die lappländische Unendlichkeit vor dem Fenster dahinzog. Mein Kollege trat auf das Gaspedal und ignorierte die Eisesglätte, die mich noch vor einer halben Schuhe zu Fuß fast zu Fall gebracht hatte. Schon bald würde Lappland immer länger in ein dämmrig-dunkles Kleid gehüllt, das an bewölkten Tagen auch nachmittags nicht so recht würde weichen wollen. Es blieb nicht mehr viel Zeit bis sich die kalte Polarnacht lange über das Land legen würde. Und hoffentlich die ersten Polarlichter den Himmel in leuchtendes Grün tauchten! Lappland war schön. Es war einsam und weit und es gab ganz viel Platz für Nichts im Kopf und viel dahinter. Ich war gerne hier.
Im Winter erzählt der Märchenonkel von Polarlichtern und Sauna und davon, was die Polarnacht mit einem anstellt da oben am Polarkreis. Bis dahin gibt’s noch einen Tourentipp von uns im NORR-Magazin.
Noch keine Kommentare