Es ist Sommer geworden im hohen Norden Finnisch-Lapplands und der Endspurt hat für uns begonnen. Bald würden wir dieses vergessene Fleckchen Erde wieder verlassen und uns ins Getümmel deutscher Städte werfen. Aber zuvor gab es noch etwas zu erledigen: Ein Besuch am Finnischen Sommerhaus, dem Mökki, dem stolzen Augenlicht eines jeden Finnen.
23. August 2015. Ganze 2,5 Monate hatten die tapferen Finnen ergeben auf den Einzug des nordischen Sommers gewartet, hatten über das herbstlich-kühle Regenwetter gescherzt und heimlich niedergeschlagen den Warmluftmassen bei ihrem Zug Richtung Süden zugesehen. Es war reichlich durchwachsen dieses Jahr in dieser doch eigentlich so schönen Jahreszeit und bald schob der Herbst schon wieder seine kalten Finger Richtung Lappland. Doch jetzt, endlich, Ende August entließ das gierige Mitteleuropa den Sommer aus seinen Krallen, der sich nun verschreckt in der Tundra seine Wunden leckte. Seit zwei Wochen hatten wir hier oben so etwas wie Sommer. Warm bekleidet verließ man morgens das Haus, um am Nachmittag hemdsärmelig zurückzukehren. Ich selbst saß frierend im Sommerkleid in meinem Büro und fand den Sommer hier oben alles andere als warm. Doch es gab nur den einen und die einzige Möglichkeit hier oben Sonne und Vitamin-D für den Winter zu tanken. Die Finnen streckten fröhlich ihre nackigen Gliedmaßen ins Sonnenlicht, sammelten sich unter der Mitternachtssonne und durchwachten die hellen Polarnächte bei Bier und Wein und Grillwürstchen über dem Lagerfeuer. Wer einmal im Sommer nachts auf den kleinen Inseln vor Helsinki gesessen hat, wird sich immer an die besondere Stimmung erinnern. Menschen sitzen in kleinen Grüppchen auf den Felsen am Meer, reden oder singen Karaoke und tanzen auf den Holzbohlen am Ufer finnischen Tango.
Und noch etwas gehört für die Finnen zu dieser anheimelnden Jahreszeit: Sinnlosen am Sommerhaus! Fast jede finnische Familie ist im glücklichen Besitz eines dieser urtümlich hölzernen Blockhäuschen oder hat zumindest das nötige Kleingeld angespart, um eins zu mieten. Nach getaner Arbeit knattert so manche Familienkutsche schwer beladen in Richtung eines geruhsamen Wochenendes am Arsch der Welt, eines Wochenendes voller Jogginghosen und Gummistiefel, Saunagänge und Föllerei während einem die Mücken um den Wanst kreisen. Unter drei Wochen geht beim Sommerhaus meistens nichts und so ist ganz Finnland im Sommer wegen schönen Wetters geschlossen. E-Mail, Amt…das kann dauern.
Meinen lieben finnischen Freunden Aava und Elmo war es zu verdanken, dass auch ich mich für ein Wochenende in den sommerlichen Mökkitraum stürzen durfte. Am vergangenen Freitag machten auch wir uns auf eine dreistündige Fahrt nach Taivalkoski, wo Elmos Eltern ein hübsches wassernahes Grundstück besaßen. Es gab dort alles was das Herz begehrte und wofür es sich im Leben zu schuften lohnte: ein Haupthaus, ein Gästehaus, ein Liiteri (ein Feuerholzhäuschen), einen See mit Badesteg und Ruderboot, Beete mit Erdbeeren, Kohl und Kartoffeln und eine tolle Familie, die uns herzlich begrüßte. Gemütlich war es im Mökki, dass wie so üblich aus nur einem großen Wohnraum mit Treppe zum Schlafboden bestand, Holz an den Wänden, der Decke und auf dem Fußboden und einer Tür zum stillen Örtchen. Wie kalt doch eigentlich die tapezierten Wände der urbanen Betonbunker waren. Die zwei Zwerge und Enkelkinder turnten mit Punkten und Sternen auf den Schlafanzügen über die Couchgarnitur, drückten sich an der Fensterscheibe die Nasen platt und erinnerten dabei an Michel und Ida aus Lönneberga. Nach einer kurzen Nacht, verspeisten wir ein königliches Mal auf dem Badesteg und lauschten dem Gequake und Geschnattere der Wasservögel im nebligen Sonnenschein. Der Mökkizauber hatte uns eingelullt, wir fühlten uns tiefenentspannt.
Lapin helmi: Die Perle Lapplands
Nach dem Frühstück sollte ich in die geheime Kunst der Moltebeerenlese eingeweiht werden und man händigte mir ein weißes Plastikeimerchen und Gummistiefel für die erfolgreiche Verrichtung des Vorhabens aus. Doch auf einem Bein konnte man ja nicht stehen und deshalb gab es nach dem ersten noch ein zweites Frühstück aus Kaffee, Keksen und Erdbeerkuchen, bevor wir uns dann mit Auto und Eimerchen in die finnischen Wälder schlugen. Die Moltebeere erinnerte optisch an eine leuchtend gelbe Brombeere und wuchs ausschließlich unter den humiden Bedingungen ausgedehnter Sumpfareale. Zwischen dünnen, klapprigen und licht verteilten Kiefern schlappte man dann also im bräunlichen Moor umher, umkreiste heimtückische Wasserlöcher, die einem im Sonnenschein aufmunternd zublinzelten und hielt aufmerksam Ausschau nach der leuchtenden Perle im dunklen Grün des Moltebeerenblatts. Moltebeerenblätter gab es wohl zu Hauf, doch die Beere selbst zierte sich ein klein wenig beim Wachsen und war daher auch unter guten Bedingungen oft nur spärlich vertreten. Sie gilt daher als die Perle Lapplands und stellt alljährlich im schönen Spätherbst Finnlands die besten Freundschaften auf die Probe. Der Fundort der Moltebeere wird nie verraten. Unter keinen Umständen und noch nicht einmal deinem besten Freund! Wer einen der begehrten Sammelplätze ausfindig gemacht hat, begibt sich stillschweigend zur Ernte und füllt in nebliger Geheimnistuerei seine Gefrierfachspeicher für den Winter. Karten existierten nicht und auch die handgemalte Wegbeschreibung zu unserem Platz war eigentlich bereits ein gewagter Verstoß gegen das lappländische inoffizielle Regelwerk.
In unserem Fall wäre es allerdings besser gewesen, wir hätten eine Karte dabei gehabt.
Denn als uns nach etwa drei Stunden ein Hüngerchen plagte und unsere Eimerchen bereits gut gefüllt an unseren Armen hingen (wir hatten ein Plätzchen gefunden, an dem sich die Moltebeeren sozusagen gegenseitig auf den Füßen standen) gingen wir auf der Suche nach unserem Automobil doch tatsächlich im Sumpf verloren. Kein Wunder, hier sah ja auch wirklich alles gleich aus und es gab links und rechts und geradeaus nichts als braunes Moor und knorrige Kiefern, Wasseraugen und Bärenspuren. Und so irrten wir also umher während mir vor Durst bereits die Zunge aus dem Hals hing und telefonierten mit Elmos Dad, der uns am Stand der Sonne wieder aus dem Wald hinausmanövrierte. Elmo und Aava war das ganz schrecklich peinlich, ich hingegen fand es spannend nun auch dieses Kapitel des finnischen Abenteuerlandes miterlebt haben zu dürfen. Vier Gefrierdöschen füllte ich mit meinem Fund und war furchtbar stolz auf meine erste eigene Moltebeerenernte. Die sündhaft teure Moltebeerenmarmelade im Supermarkt konnte ab jetzt noch so penetrant ihre Nase in meinen Einkaufszettel drücken, ich hatte ausgesorgt.
Zum Abendessen gab es Gemüse und Salate, Elch und Kartoffeln und Vanilleeis mit Beeren zum Nachtisch, bevor nur eine Stunde später der Mitternachtskaffee mit Keksen eingeläutet wurde. Inzwischen war ich mir ganz sicher, Tolkiens Hobbit aus dem Herrn der Ringe finnischer Abstammung zu wissen und wartete darauf, dass jemand seine behaarten Füße dem Kamin entgegen strecken und ein Pfeifchen rauchen würde. Elmos Mama opferte sich in diesen drei Tagen gebückt an der Spüle stehend regelrecht auf, um uns alle zu verköstigen und ich riss mich mit schlechtem Gewissen regelmäßig um den Abwasch während Aava zum Dank eine Schokoladeneiscremetorte buk. Nachdem wir uns alle nacheinander im Entenmarsch zum Saunawichtel gesellt hatte, der knackend und klopfend im Holz sein Wohlgefallen zum Ausdruck brachte, verzogen wir uns ins Federbett, um einem sonnigen Sonntag entgegen zu schlafen.
Zu Besuch bei Kalle Päätalo
Früh am Morgen stimmte der Haushund wieder sein ausdauerndes Gejodel an, das uns viel zu früh aus dem Traumland riss und auch den gesamten kommenden Tag nicht mehr abreißen würde. Müde hingen wir auf der Außentoilette mit Blick auf den See bevor wir uns dann zum ersten Frühstück am Bootssteg und zum zweiten Frühstück mit Eiscremetorte auf der Terrasse niederließen. Der Haushund durchkläffte im Minutentakt die sonntägliche Morgenruhe und wir beschlossen einen Ausflug ins benachbarte Museum, dem Wohnhaus des Autors Kalle Päätalo zu machen. Mit Schwimmweste und Kamera enterten wir den flotten Kahn und ließen uns von Taxi Elmo über den See chauffieren. Das Haar wehte im Wind und ich genoss das unbeschreiblich glückliche Gefühl, dass sich gerade kribbelnd von meinen Zehenspitzen hoch arbeitete. Das Museum war klein und wahnsinnig toll! Es gab alten Kram, den ich pedantisch vor die Linse nahm und ich konnte mir förmlich vorstellen, wie Kalle Päätalo hier seine Zeilen zu Papier brachte. Da Fotografie und Schriftstellerei zu meinen heimlichen Traumberufen gehören, hege ich für diese Sorte Mensch stets eine große Bewunderung und ein heimliches Gefühl des Verstandenseins.
Später holten uns Elmo und Cousin Kimmo am Ufer ab und wir schipperten eine Runde fröhlich um die Inselchen und Buchten des weitläufigen Sees bevor wir uns in der Sommerhitze schwitzend dem Wikingerspiel im Garten widmeten. Aava und ich vergeigten klassischerweise so viele Würfe, wie die Jungs welche gewannen und belegten damit die Unfähigkeit zum zielgenauen Wurf des weiblichen Geschlechts. Der Haushund kläffte noch immer in einer Tour und so langsam war die allgegenwärtige Aggression der Hausbewohner deutlich zu spüren. Jagdhunde haben in Finnland ein ganz besonderes Privileg und erhalten durch ihre Aufgabe sozusagen den Freifahrtschein zum verbalen Erguss. Da die Hunde bei der Jagd bellen sollen, verbietet man ihnen auch zu Hause nicht den Mund. Da sich inzwischen jedoch drei weitere Hund und insgesamt zehn Menschen auf dem Grundstück tummelten, fand unser Hütehund sekündlich einen neuen Anreiz zum Wortgefecht. Nach dem Mittagessen und einer Kaffeestunde machten wir uns am späten Nachmittag dann auf in Richtung Heimat, tiefenentspannt und kugelrund, dankbar für das wunderschöne Wochenende und in Erinnerung an diese liebe Sorte Mensch, die wir nun dort in ihrem gemütlichen Sommerhaus zurückließen. Auf dem Rückweg kollidierten wir zweimal noch fast mit einem Rentier. Doch so war das halt. Hier oben am Polarkreis.
Damit endete unser Jahr im hohen Norden. Bald hielt der Herbst wieder Einzug in die Stadt Rovaniemi und tunkte die Birken und Pappeln nochmal in ein goldenes Gelb, ganz so wie zu Beginn unserer Reise. Drei Jahre später würden wir wiederkommen, am 12.09.2018 würde der Flieger von Berlin abheben und uns drei Jahre später wieder zurück an unser Sehnsuchtsziel bringen. Die Doktorarbeit in den letzten Zügen, die Zunge zu den Füßen und hinter uns eine turbulente und intensive Zeit zwischen Beruf, Dissertation, WG und Zukunftsträumereien. Doch erstmal würden die Wanderstiefel geschnürt werden. Für die Weite und die klare Luft, die Kollegen und die herbstlichen Wälder unter dem Polarlicht in Finnland.
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