Mein alter Schaukelstuhl wiegt sich in den Schlaf, vor, zurück und ich wackele mit den Zehen und sehe kleine Staubkörnchen in der Sonne leise Kreise drehen. Leise. Es ist ganz leise. Still und regungslos, bewegungslos hänge ich in den Tag hinein in einer leeren WG, in der niemand ist, außer mir. Mein Schrank knackt in der Wärme der staubigen Heizungsluft und die Gegenstände um mich herum starren mich an. Bücher, Pflanzen, Textilwaren. An den Wänden hängen Fotos von vor sieben Jahren und vom Schreibtisch die Hausaufgaben von morgen. Stille spült sich in mein volles Leben, in die 4er-Wg, in die meckernden und ungeduldigen Du-musst-Abers der drei Jobs, die sich fleißig um freie Minuten streiten. Mein Hirn stellt auf Aus. Endlich. Und endlich fangen die Gedanken wieder zu tanzen an, laufen nach links und rechts und im Kreis, ganz frei und graben nach Ideen und Vorsätzen von vorgestern im grauen Hirn. Vor dem Fenster sehe ich Eisschollen treiben und um mich herum entfaltet sich ein Raum in Weiß. Mein Zimmer in Finnland. Mein Zimmer mit Nichts im Nichts von vor zwei Jahren. Zwei Jahre ist es her, dass ich aus Finnland wiederkam und drei Jahre, dass ich ging. In diesem einen Jahr dort oben fing mein Hirn wieder zu arbeiten an, ich begann wieder zu denken und Sachen selbst zu machen und das Durcheinander aus mir selbst zu trennen. In diesem einen Jahr entstand Storyfutter. Es konnte nur dann entstehen und weder davor noch danach und auch jetzt wäre ich wieder weit davon entfernt, hunderte von Stunden sprudelnder Energie in dieses visuelle und verbale Traumprojekt stecken zu können.

Flashback: Alusta alkaen – von Anfang an. Am Zugterminal von Tampere/Südfinnland gondeltede das Thermometer an diesem 01. August 2014 fleißig um die 30 °C herum und nahm mir jegliche Illusion dem schwülen deutschen Hitzesommer entkommen zu können. Meine erste Amtshandlung auf finnischem Boden war die Ortung meiner Sandalen im Reisegepäck, um dem feuchten Klammergriff meiner Wanderschuhe zu entkommen. Vier Stunden saß ich im bunten Durcheinander der Bahnhofshalle, erwarb teuren Joghurt, Brot und Obst gegen Übergabe kleiner Münzen und machte mir hunderte Gedanken in dieser Transferzone zwischen meinem alten deutschen Leben und dem Jahr Finnland, was vor mir lag. Der Nachtzug um 22:11 Uhr hatte osteuropäisches 80er-Jahre-Flair und ich machte es mir in wohliger Vorfreude auf den Polarkreis in meinem quietschenden Sessel hinter der rosafarbenen Gardine gemütlich. Birke um Birke zog mit fiedrigen Blättern im lichten Hell der polaren Sommernacht vor den Zugfenstern dahin und ich glitt hier und da vom Land der Träume in einen nebligen Dämmerzustand. 9,5 Stunden im Zuge der eisigen Klimaanlage und ungemütlich aufrechter Position. Ich erinnere mich an ein blondes junges Mädchen in der Reihe neben mir, die in ihrem langen weißen Rock unter einem rosafarbenen Schal zugedeckt auf dem Sitz schlummerte und die ich darum beneidete, nach Hause zu kommen. Nach Hause…Ich kam das erste Mal in meinem Leben an einen Ort, an dem mich fast niemand erwartete und an dem ich niemanden kannte. Während es schon gegen drei Uhr nachts vor dem Fenster wieder zu dämmern begann und der Zug friedlich in einen sonnigen Sommermorgen ratterte, wurde mir ganz mulmig im Bauch und ich hatte das Gefühl am anderen Ende der Welt wieder aufzutauchen. Am Polarkreis…was tat ich eigentlich hier.

7:25: Seuraavana: Rovaniemi! (Als nächstes: Rovaniemi!) Nach einer Katzenwäsche auf der Zugtoilette und einem schnellen Frühstück spuckte mich der Nachtzug in Lapplands grauem Nieselwetter auf dem Bahnsteig aus. Ich zückte meine zerknitterte, auf billigem Papier gedruckte Google-Maps-Karte und marschierte zielorientiert schnurstracks Richtung Wohnheimsverwaltung, wo mein Wohnungsschlüssel auf mich warten sollte. Ich hatte kein Smartphone und wollte auch keins und war nun also tatsächlich ohne Netz und doppelten Boden. Die Schlüsselsuche  entwickelte sich zur lappländischen Landstreckenprozedur und so kam ich eine Dreiviertelstunde später verschwitzt und mit langgezogenen Kofferarmen an meinem Ziel an, um mit trübem Blick und brüchigem Englisch meinen Schlüssel entgegen zu nehmen. Der Taxifahrer übernahm danach den Transport zum Wohnheim selbst, wo ich nach einigen Versuchen das knifflige Schließsystem zu überwältigen, endlich mein neues Heim bezog. Die Wohnung war sauber, mit dem Nötigsten möbliert und…leer! Im personellen und praktischen Sinne. Keiner da, Geschirr und Bettwäsche auch nicht. Kein Löffel, keine Lampe, kein Topf. Um mich herum reines, stilles Weiß und vor dem Fenster ein Eichhörnchen, dass in der Erde nach Nüssen grub. Nestbau. Da mach ich mit! Dass zur Errichtung eines neuen Nestes aber viele weitere und vor allem elementare Dinge fehlten, wurde mir spätestens bewusst, als meine Finger vergeblich nach der Klopapierrolle tasteten…

Eine Zeit des Minimalismus begann, eine Zeit mit einem Löffel und einer Tasse, mit wenigen Dingen, die mir zum Leben reichten und hin und wieder mal ein Mitbewohner. Ansonsten viel Zeit, viel Leere, viel Ich. In dieser Zeit begann ich wieder selbst zu reisen, nach Schweden und Norwegen, begann endlose Wochenenden nur für mich mit Sinnhaftigkeit zu füllen und Leute und Dinge wahrzunehmen. In dieser Zeit sah ich die Welt wieder haarklein vor mir liegen. Und in der Zeit begann ich wieder zu schreiben. Wo ich vorher nicht mal eine Zeile auf das Papier brachte und die Welt an mir vorbeirauschte, wie die verschmierten Spuren einer hässlichen Autobahn, präsentierte sie sich mir hier Stück für Stück wie die klaren, bunten Bildchen eines altmodisch langsamen Diavortrags.

Das Weiß um mich herum füllt sich mit Büchern und Pflanzen und Textilwaren. Mein Smartphone vibriert wie eine zornige kleine Wespe in der Hosentasche und der Haustürschlüssel klickt unheilverkündend im Schloss. In diesem Moment beschließe ich, mal wieder die Segel zu hissen. Ich muss raus und das alleine. Ich muss mal wieder abschalten und aufhören für andere mitzudenken. Ohne Alle(s)…und die Welt ungefiltert auf mich einregnen lassen!

 

Mehr vom Polarkreis gibt es in den nächsten Wochen hier auf Storyfutter! In kleinen Häppchen hin und wieder ein Fenster in den Norden, nach damals, als wir uns mit einem Jahr Lappland einen Traum erfüllten.