Es ist Donnerstag, 15Uhr. Mein mit grünem Autolack bemaltes klappriges Damenrad surrt und ruckelt über den Asphalt. Mein Kopf ist beschäftigt mit Terminen und Erledigungen, mit meinem Vortrag für den nächsten Tag und den Aufgaben, die mich gleich im Labor erwarten. Die Sonne scheint. Es ist warm und mein Rock flattert luftig um meine Knie. Mein Blick ruht gedankenverloren auf der Straße und bleibt an einem leuchtenden Gebilde haften.

Studentenleben: Ausgedient

Es ist quadratisch gelb mit rotem Aufdruck, klimpert und klappert und wird von zwei Halbwüchsigen mit Shorts und T-Shirt getragen. Die Flipflops flappen im Rhythmus ihrer Schritte durch die schwüle Mittagshitze während sie ihren goldenen Schatz  mit einem Ausdruck beseelter Zufriedenheit in ihre WG bugsieren.  Gleich werden sie sich in ihrer mit Postkarten, Fotos und nackten Frauen zugeplasterten Küche an einem ausrangierten und wunderbar stabilen Küchentisch aus Omas Zeiten niederlassen, das erste Bier des Tages aufreißen und mit den Plänen für’s Wochenende beginnen. Also für heute. Sie werden sich in Boxershorts auf dem löchrigen Sofa räkeln, lautstark das verpixelte Fußballspiel auf dem alten Röhrenfernseher verfolgen und sich mit sinkendem Blutzuckerspiegel und einem Blick in den mit Bierflaschen und einer Packung Gut&Günstig-Käseaufschnitt ausgestatteten Kühlschrank für die Tiefkühlpizza entscheiden. Die mit Muttis mahnenden Worten über Vitamine und Gemüse im Hinterkopf gekauften Tomaten und der Apfel oxidieren in der Fensterbank fröhlich vor sich hin und verlieren mit jedem Sonnenaufgang mehr und mehr ihr natürliches Äußeres. Die Türklingel schrillt. Längst hat die Wohnung sämtliche Aufnahmekapazitäten erreicht und die studentische Vollversammlung beschließt aus Platzgründen das Happening nach draußen zu verlegen. War da nicht heute Sommerfest im Alex? Dem Wohnheim, das noch abgeranzter ist als die eigene WG und dessen Bewohnern damit in stummer Hochachtung das Prädikat der völligen Autonomie und  gesellschaftlichen Losgelöstheit verliehen wird? Wer im Alex wohnt und trotzdem gut im Studium ist, der hat es geschafft. Da gibt es nichts zu diskutieren. Studentenleben als Lifestyle-Angebot!

 

Studentenleben: Und es wird Nacht im Hirn

Mit jedem Bier sehen die Mediziner-Mädels besser aus, die sich vor paarungswilligen Brüllaffen kaum retten können. Die selbst ernannte Band des Hauses schreit das Blaue vom Himmel herunter, es wird dunkel und dann wieder hell, während der Informatik-Nerd mit dem Quantenphysiker über die programmierte Berechnung von Elementarteilchen philosophiert und so gar keine Augen für die schöne Blondine neben sich hat, die stattdessen jetzt von einem bewusst ungestylten Hipstertypen aus den Wirtschaftswissenschaften markiert wird. Wann war morgen nochmal Vorlesung? 8 Uhr??? Spinnen die?? Soviel Unzumutbarkeit muss mit Nichtachtung gestraft werden. Wenn man das einmal einreißen lässt, gehen demnächst womöglich alle Seminare unnötigerweise so früh los. Da muss man auch mal ein Zeichen setzen. Für das autonome Studentenleben! Während die arbeitende Bevölkerung bereits auf die Mittagspause zusteuert, wabert in der WG der unverwechselbare Geruch des Katers, nach abgestandenem Bier und ungewaschenen Männersocken durch die schläfrige Stille und die gelbe Kiste wartet mit geöffneten Flaschenhälsen auf ihren bald stattfindenden Rücktransport zu Getränke Gertie.

 

Studentenleben: Ich bin ein Kuckucksei

Wann habe ich eigentlich aufgehört Student zu sein? Oder bin ich es noch? Die Einreichung der Exmatrikulation nach fünf wunderbaren Jahren wilden Studentenlebens erschien mir wie die völlig bescheuerte freiwillige Entsagung von Freiheit und Zufriedenheit, um nun endlich in ein wohlgeordnetes langweiliges Erwachsenen-Dasein bis zur Rente starten zu können. Wer macht sowas eigentlich?? Und wo sind diese schönsten Jahre meines Lebens hin? Zum Glück gibt es da noch die Promotion und lechzend schleppe ich mich ein halbes Jahr lang dürstend auf die Immatrikulation als Promovierende zu, versuche den Schein zu wahren mit meinem heimlich einbehaltenen Studentenausweis, sporadischen Mensa-Besuchen und der regen Teilnahme an Tanzdemos, linkspolitischen Kinofilmen und Sommerfesten, am Hochschulsport und meinem WG-Leben. Der Verlust der Freiheit klebt mir als Schandmal auf der Stirn. Ich bin gebrandmarkt.  Ich verhalte mich unauffällig in der Unibib, um nicht aufzufliegen, um mir keine mitleidigen Blicke der jungen Wilden einzufangen. Ich fühle mich alt und faltig und vernünftig und hoffe, dass man mir meine neu erworbene Spießigkeit des gutbürgerlich Verdienenden nicht an der Nasenspitze ansieht. Ich will es behalten, mein Studentenleben. Meinen Schatz!

 

Studentenleben: Doppelt gelebt hält besser

Was macht sie eigentlich so unvergleichlich, die Studentenzeit? Ist es das pampige, sich stets wiederholende Mensa-Essen, das man sich trotzdem dankbar intravenös zuführen möchte, um nicht kochen zu müssen? Sind es die dösig-emsigen Vorlesungen in Klapptischreihen, in denen man Bullshit-Bingo spielen, fleißig mitschreiben oder sich mit einem Coffee-To-Go von der hart durchfeierten Nacht erholen kann? Ist es diese kindliche Unbeschwertheit, die dem Studentendasein inne wohnt? Wo sonst klettern Erwachsene in ihren besten Jahren über die Rücken ihrer Sitznachbarn nur um den zehnten Kaffee loszuwerden; wo sonst bekommt man Anwesenheitspunkte, wo doch andere gleichaltrige schon seit fünf Jahren mit der Stechkarte zur Arbeit gehen? Man hat schon was zu tun mit seinen Seminararbeiten, Referaten und Klausurenphasen am Ende des Semesters. Doch mal ehrlich: Nie wieder wird man so ungezwungen und selbstbestimmt über seine Zeit verfügen können, wie in diesen Jahren. Nie wieder wird man so vieles ausprobieren, sich so oft neu erfinden können, die Welt entdecken und so leicht neue Leute treffen, wie mit Anfang 20. Unvergleichlich waren die Momente, in denen man nach einer braven Familienfeier mit Schlips und Kragen zu den WG-Genossen zurückkehrte, den Vorzeigesohn abstreifte und in die Ecke schmiss, ein Bier öffnete und mit dem ersten Schluck versuchte, das schlechte Gewissen zu verdrängen, sie alle so getäuscht zu haben. Es ist doch interessant, welches Bild die Großeltern von dem lieben Enkelkind haben, das höflich und gut erzogen am Kaffeetisch sitzt, herausgeputzt und mit einem sicheren Karriereweg vor Augen. Nichtsahnend von der Schwierigkeit eine faltenfreie, saubere Hose zu finden, das H&M-Hemd in die Hose stecken zu müssen und Schuhe aus dem verstaubten Schuhregal zu kramen, die nicht den Aufdruck Converse All Star tragen und pure Rebellion verkörpern.

Oder ist es dieses faszinierende bunte Potpourri aus Kochabenden, Grillfesten, Selbstgemachtem und Internationalem, aus politischen Diskussionen und gesellschaftlichen Statements, aus Trödelmärkten, Grobstrickpullovern und Omabrillen, die dem Studentenleben diesen unvergleichlichen Hauch von Freiheit verleihen? Mein Rad rumpelt über die mit Schlaglöchern gespickte Straße und ich fühle mich plötzlich gar nicht mehr so fremd…