Vorsichtig klickend drehe ich den Schlüssel im Schloss und betrete auf Zehenspitzen die dunkel abgewetzten Dielen unserer Altbau-WG. Der Boden murrt leise unter meinen Sohlen und ein paar Wollmäuse taumeln benommen unter das Läusesofa. Beige-braun kariert. Wie bei Omma. Ich lausche. Stille füllt den Flur, das Bad, die Küche, meine vom Büroalltag malträtierte Schädeldecke. Keiner da außer der nackten Mieze auf dem PinUp-Kalender. Nice! Endlich Ruhe, endlich Zeit für mich in der einst so geliebten Geselligkeit einer musikalisch alternativen 4er-WG. Seufzend lasse ich meine Tasche neben den verkohlten und bereits von prähistorischen Sedimenten bedeckten Lichterschlauch gleiten, schlüpfe in meine Birkenstock und trabe müde in die Küche. „Betreten ohne Hausschuhe auf eigene Gefahr“ schreiben pulverisierte Backwaren in großen Lettern auf den angegrauten Plasteboden und ein paar Tomatenaugen werfen feurige Blicke in Richtung Tür. Erst mal Kaffee, denke ich und lasse kaltes Wasser bis zur magischen Vier in unsere geliebte Maschine laufen. Ab Tasse fünf ergießen sich kleine Rinnsale aus den porös gewordenen Fugen der Wasserstandanzeige, wie winzige Wasserfälle in den nördlichen Kalkalpen.
Während die vergilbte Maschine gurgelnd ihr Bestes gibt, setze ich mich auf die Fensterbank und lasse den Blick durch die alte WG-Küche schweifen. Über wackelige Küchenstühle, auf denen schon so mancher Hintern beim Schachspiel schwitzte, über Pilzkulturen im Petersilientopf und unseren mit Kinderfotos bestückten Putzplan am Holzregal. Schlecht gereimte, rosafarbene Denkzettel erinnern an Zeiten der hygienischen Totalverweigerung. „Nach dem Essen, Tisch abwischen nicht vergessen!“ Ach, schön…Schön war es hier immer mit Freunden unter einem Dach, schön in dieser schillernden Seifenblase aus absoluter Freiheit und altem Zeug, aus wenig Komfort, über den wir später mit verträumten Augen mal würden sagen können: „Ach, wir hatten ja damals nichts.“ Mein Blick fällt auf heruntergebranntes Kerzenwachs in alten Weißbierflaschen und ich denke an laute, stickig heiße Kochabende, in denen die kleine Küche vor glückselig dampfenden Altstudenten nur so aus den Nähten platzte. An Schallplattenmusik, Gitarrenriffs, Klaviermusik. An gemeinsame sportliche Leibesertüchtigung und an „den Platz“, auf dem wir unsere kulinarischen Eskapaden zusammen wieder vom Hintern schüttelten.
Wir hatten ja nichts…Hinter mir zieht kühle Luft durch die herausgebrochene Ecke im Fensterglas und formt kleine Dampfspiralen über dem Kaffeepott. Wenn wir doch erst wieder mit baumelnden Beinen über den Tomatenpflanzen in der Küchenfensterbank sitzen und uns die Morgensonne ins vom gepflegten Müßiggang gebräunte Antlitz scheinen lassen könnten! Wir hatten ja nichts? Ich trinke einen Schluck Kaffee und spüle die aufkeimende Unruhe zurück in die Magengegend, wo sie mit ausgewogener Vollwertkost einen harmonischen Brei bildet. Ich bin das zurückgebliebene Urgestein, der letzte Krieger hinter den studentischen Linien während sich der Rest bereits in Richtung Eigenheim und Sparzulage vom Acker gemacht hat. Noch vor wenigen Monaten sprangen wir verliebt im Sommerkleid durch die Gammel-WG, verliebt ins Leben, verliebt in uns. Und plötzlich zogen wir aus, um sesshaft zu werden. Was werden wir kriegen, wenn wir alles haben? Ich schieße einen Bierkorken auf den Mülleimer zu und freue mich insgeheim auf die Zukunft mit eigenen vier Wänden und einem eigenen Leben, einem aufgeräumten, geordneten Leben ganz für mich allein. Irgendwie bin ich zu groß geworden für die WG. Ich sprenge ihren Rahmen mit meinen neuen, erwachsenen Ansprüchen und weiß dabei noch gar nicht, ob die Zukunft nicht noch eine Nummer zu groß für mich sein wird. Und doch war es so schön! Die schillernde Seifenblase wunderbar leichter WG-Erinnerungen schwebt durch die friedliche Küche dahin und bleibt noch einmal kurz am Fenstergriff hängen. Dann zerplatzt sie leise und hinterlässt einen rosaroten Schmierfilm vor der Welt da draußen.
Während ich die Kaffeetasse zurück in die Spüle stelle, fällt mein Blick auf die vertrockneten Kartoffelreste im Kochtopf hinterm Abtropfsieb. Na, einen Moment noch. Dann ist aber Schluss!
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